Mord

 

Bewaffnete Männer standen bereit.

Krondor feierte noch immer, denn Arutha hatte auch den folgenden Tag zum Feiertag erklärt, und das mit der schwachen Begründung, es sollte bei zwei Söhnen auch zwei Tage Präsentation geben. Die Ankündigung war von allen Menschen in der Stadt mit Begeisterung aufgenommen worden, abgesehen vielleicht vom Personal des Palastes, doch Zeremonienmeister deLacy hatte das Murren der Diener schnell zum Verstummen gebracht. Die Feiernden bevölkerten weiterhin die Kneipen und Schenken, die festliche Stimmung des vorherigen Tages stieg eher noch, und die vielen Wachen, die herumliefen, fielen kaum auf, denn offenbar waren sie außer Dienst, und schließlich schienen sie sich auch gegenseitig gar nicht zu beachten. Gegen Mitternacht hatten sich diese Männer an fünf verschiedenen Orten gesammelt: in der Schenke ›Zum Regenbogenpapagei‹ , in drei weitverstreut liegenden Lagerhäusern, die von den Spöttern kontrolliert wurden, und an Bord des Königlicher Rabe.

Auf ein abgesprochenes Zeichen hin - das Ausrufen einer falschen Uhrzeit durch die Nachtwächter der Stadt - würden sich die fünf Kompanien zu dem Ort aufmachen, wo die Bruderschaft der Assassinen ihren Unterschlupf hatte.

Arutha führte die Gruppe, die sich im ›Regenbogenpapagei‹ versammelt hatte. Trevor Hull und Aaron Cook kommandierten die Seeleute und Soldaten, die mit Booten in das Abwassersystem eindringen sollten. Jimmy, Gardan und Hauptmann Valdis sollten jeweils eine der Gruppen, die sich in den alten Lagerhäusern versteckt hielten, durch die Straßen des Armenviertels führen.

Jimmy sah sich um; gerade schlüpfte der letzte Soldat leise durch die halbgeöffnete Tür in das Lagerhaus. In dem Gebäude, wo sonst die Spötter ihre Beute unterbrachten, drängten sich jetzt Männer. Er stellte sich wieder an das einzige Fenster, durch das er die Straße beobachten konnte, die direkt zum Unterschlupf der Nachtgreifer führte. Roald betrachtete das Stundenglas. Er hatte es umgedreht, als die Nachtwächter die letzte volle Stunde ausgerufen hatten. An der Tür des Lagerhauses horchten einige Soldaten. Jimmy ließ seinen Blick erneut über die versammelte Kompanie schweifen. Laurie, der unerwarteterweise vor einer Stunde zusammen mit Roald aufgetaucht war, lächelte Jimmy nervös zu. »Immerhin ist es hier bequemer als in den Höhlen am Moraelin.«

Jimmy erwiderte das Lächeln des uneingeladenen Teilnehmers an dem nächtlichen Überfall knapp. »Genau.« Ihm war klar, der Sänger, aus dem ein Adliger geworden war, wollte mit seiner Bemerkung nur die Sorgen abschütteln, die sie alle bedrückten. Denn sie waren schlecht vorbereitet, und sie hatten keine Ahnung, mit wie vielen von Murmandamus' Dienern sie rechnen mußten. Doch das Auftauchen des falschen Prinzen hatte eine neue Welle von Angriffen der Moredhel angekündigt, und Arutha hatte mit Nachdruck darauf bestanden, äußerst rasch vorzugehen. Und es war ebenfalls Aruthas Entscheidung gewesen, seine Leute eiligst zu sammeln und den Schlag gegen die Nachtgreifer zu führen, ehe der Morgen ein weiteres Mal über Krondor graute. Jimmy hatte mehr Zeit gefordert, damit er die Gegend genauer erkunden konnte. Doch der Prinz hatte seinem Drängen nicht nachgegeben. Jimmy hatte nämlich einen Fehler gemacht; er hatte erzählt, wie nahe er der Entdeckung gewesen war. Als Nathan dann die Nachricht vom Tod des Betrügers überbracht hatte, beurteilte Arutha die Lage folgendermaßen: Sie selbst konnten nicht wissen, ob der falsche Prinz Komplizen im Palast hatte, oder ob seine Spießgesellen auf andere Weise Kenntnis vom Erfolg oder Mißerfolg seines Betrugs erhalten hatten. Sie liefen also Gefahr, in einen Hinterhalt zu geraten, oder - noch schlimmer ein leeres Nest vorzufinden. Jimmy verstand die Ungeduld des Prinzen, am liebsten hätte er noch einmal nach geprüft, ob sie wirklich alle Fluchtwege blockiert hatten.

Sie hatten große Mengen Bier und Wein - Spenden vom Prinzen an die Bürger - in die Stadt schaffen lassen, in der Hoffnung, das würde ihre Erfolgschancen erhöhen. Die Spötter hatten ihnen geholfen, eine vergleichsweise große Anzahl von Fässern im Armenviertel und besonders in Fischdorf zu verteilen. Die anständigen Leute von Fischdorf - wie gering ihre Anzahl auch immer sein mochte, dachte Jimmy wehmütig - würden glücklicherweise gemeinsam dem Trunke frönen. Dann sagte jemand: »Die Glocke der Nachtwächter hat geläutet.«

Roald sah auf das Stundenglas. Es war noch etwa für eine Viertelstunde Sand in der oberen Hälfte. »Das ist das Signal.«

Sofort war Jimmy an der Tür und ging voran. Seine Kompanie erfahrener Soldaten würde das Lager der Nachtgreifer als erste erreichen. Jimmy war der einzige, der überhaupt einen Blick in das Innere des Gebäudes hatte werfen können, und er hatte freiwillig die Aufgabe übernommen, die Nachtgreifer in ihrem Versteck aufzuscheuchen. Die Kompanien von Gardan und Valdis würden sofort danach als Verstärkung eintreffen und die Straßen um das Gebäude mit Soldaten in der Uniform der fürstlichen Truppen bevölkern, während Jimmys Männer den Unterschlupf überfielen. Die Kompanien von Arutha und Trevor Hull waren dann entweder bereits durch eine Falltür im Keller des ›Regenbogenpapagei‹ oder durch den Tunnel der Schmuggler im Hafen in die Abwasserkanäle eingedrungen. Sie würden sich unter dem Quartier der Nachtwächter zusammenziehen und alle Fluchtwege in den Abwässern für die Assassinen versperren.

Die Soldaten schwärmten nach allen Seiten aus und duckten sich in die nächtlichen Schatten, während sie die schmale Straße entlang eilten. Laut Befehl sollten sie zwar so heimlich wie möglich vorgehen, doch bei dieser großen Anzahl bewaffneter Männer kam es vor allem auf Schnelligkeit an. Außerdem sollten sie sofort angreifen, wenn sie entdeckt wurden. Als sie die Straßenkreuzung vor dem Gebäude der Nachtgreifer erreicht hatten, sah sich Jimmy um und entdeckte keine Wachen. Er deutete mit den Händen auf zwei schmale Seitenstraßen, die abgesperrt werden mußten, und mehrere Soldaten liefen dorthin. Jimmy machte sich zum Eingang des Gebäudes auf. Die letzten zwanzig Meter bis zur Tür waren die schwierigsten, weil es nur noch wenig Deckung gab. Jimmy kannte die Nachtgreifer gut genug; wahrscheinlich hielten sie allen schutzbietenden Unrat aus dem Bereich vor ihrer Tür fern, weil sie mit einem nächtlichen Angriff wie diesem rechneten. Und im Eckzimmer des ersten Stocks stand vermutlich ein Wachposten, der von dort oben die beiden Straßen überblicken konnte, die sich vor dem Gebäude kreuzten. Aus einiger Entfernung, vom anderen Eingang des Hauses her, hörte Jimmy das Knirschen von Metall auf Stein: Gardans Männer waren im Anmarsch, so wie Valdis' Männer hinter Jimmys Kompanie aufmarschierten. Dann bemerkte er im Fenster des ersten Stocks eine Bewegung und erstarrte für einen Augenblick. Er hatte keine Ahnung, ob sie ihn gesehen hatten oder nicht. Doch eins war ihm klar, die Nachtgreifer würden ihn so lange beobachten, bis jeder Verdacht über seine Gefährlichkeit zerstreut wäre. Also torkelte Jimmy von der Mauer fort, stolperte vorwärts, hielt die Arme haltsuchend nach vorn ausgestreckt; nur wieder ein Betrunkener, dessen geplagter Magen gegen ein Übermaß an Wein rebellierte. Jimmy drehte kurz den Kopf zur Seite und erkannte Roald, der sich dicht hinter ihm in der Dunkelheit verbarg. Zwischen den läuten Würgegeräuschen zischte er ihm zu: »Haltet Euch bereit.«

Einen Moment später torkelte er weiter auf das Eckhaus zu Er unterbrach seine Vorstellung noch einmal, spähte und setzte sie dann wieder fort. Die ganze Zeit über sang er dabei ein einfaches Liedchen vor sich hin und hoffte, damit als später Heimkehrer von der Feier durchzugehen. Er näherte sich dem Eingang des Hauses, stolperte zur Seite und drückte sich an die Hauswand direkt neben der Tür. Dort hielt er die Luft an und lauschte Von drinnen konnte er gedämpfte Stimmen hören.

Ob sich die Nachtgreifer in Alarmbereitschaft befanden konnte er allerdings nicht feststellen. Jimmy nickte, dann wankte er ein Stück in die Straße hinein, in der Gardan mit seinen Soldaten wartete. Er lehnte sich an die Mauer und täuschte erneut vor, sich zu übergeben, dann grölte er etwas Sinnloses in die Nacht. Er hoffte, dieses Grölen würde die Wache oben für einen Augenblick ablenken.

Ein halbes Dutzend Männer eilten mit einem Rammbock die Straße herunter und stellten sich auf, während hinter ihnen vier Bogenschützen ihre Pfeile auflegten. Sie hatten freie Schußlinie auf die Fenster im ersten Stock und auf den Eingang des Gebäudes. Jimmy torkelte wieder auf das Haus zu, und als er sich genau unter dem Fenster befand, sah er, wie jemand den Kopf heraussteckte und seine Bewegungen verfolgte. Der Posten hatte Jimmys Vorstellung zugeschaut und die nahenden Männer nicht bemerkt. Hoffentlich wußte Roald, was zu tun war.

Ein Pfeil rauschte durch die Luft und verriet ihm, daß der Söldner die Lage richtig eingeschätzt hatte. Falls es dort oben eine zweite Wache gab, verloren sie nichts, wenn sie die erste töteten; falls nicht, gewannen sie zusätzlich Zeit und konnten den Feind überraschen. Der Wachposten lehnte sich aus dem Fenster, um Jimmy nachzuschauen, der sich an der Hauswand entlang bewegte. Er beugte sich noch weiter vor, bis er schließlich aus dem Fenster fiel und ein paar Schritte neben Jimmy aufschlug. Jimmy kümmerte sich nicht um die Leiche. Einer von Gardans Männern würde der Wache bald das Herz aus dem Leib schneiden. Jimmy erreichte die Tür, zog sein Rapier und gab den anderen ein Zeichen. Die sechs Männer mit dem Rammbock, einem Balken mit gehärteter Spitze, schritten voran. Sie brachten sich leise vor der Tür in Stellung, traten etwas zurück und ließen den Balken dreimal maßnehmend hin- und herschwingen. Beim vierten Mal krachte der Rammbock gegen die Tür. Sie war nicht verbarrikadiert, deshalb brach sie sofort aus den Angeln und donnerte mit Wucht ins Innere des Hauses. Holzsplitter flogen durch die Luft, und die Männer drinnen rannten zu ihren Waffen. Noch ehe die Soldaten den Rammbock fallenlassen und ihre Schwerter ziehen konnten, ging ein Hagel Pfeile über sie hinweg. Roald und seine Männer waren schon durch die Tür, bevor der Balken polternd auf den Steinen landete.

Kampf lärm, Schreie und Flüche erfüllten den Raum, während in anderen Teilen des Gebäudes Fragen gebrüllt wurden. Mit einem einzigen Blick erfaßte Jimmy die Lage und fluchte erbittert. Er fuhr herum und wandte sich an den Feldwebel, der die zweite Kompanie führte. »Sie haben Durchgänge zu den Nachbargebäuden gebrochen. Drüben sind noch mehr Räume.« Er zeigte auf zwei Türen, hinter denen die Stimmen laut geworden waren. Der Feldwebel teilte die Truppe und schickte sie durch die beiden Türen. Ein anderer Feldwebel führte seine Leute nach oben, während Roalds und Lauries Männer die wenigen Assassinen im ersten Raum überwältigten und dann den Fußboden nach Falltüren absuchten.

Jimmy rannte zu der Tür, die zu dem Raum mit der Falltür zu den Abwässern führte. Er stieß die Tür auf und entdeckte einen toten Nachtgreifer. Aruthas Männer stiegen gerade den Schacht herauf. Das Zimmer hatte noch eine zweite Tür, und Jimmy war, als hätte er jemanden hinter einer Ecke gesehen. Er sprang ihm hinterher, nachdem er gerufen hatte, irgendwer solle ihm folgen, und bog um die Ecke. Dort wich er zur Seite aus, doch es erwartete ihn kein Hinterhalt. Als sie das letzte Mal gegen die Nachtgreifer gekämpft hatten, waren diese geradezu darauf aus gewesen zu sterben. Diesmal waren sie eher zur Flucht entschlossen.

Jimmy rannte durch einen Flur. Ein halbes Dutzend Soldaten folgte ihm auf den Fersen. Er trat eine Tür auf und fand drei tote Nachtgreifer auf dem Fußboden des Zimmers, das hinter dem Eingangszimmer lag. Einige Soldaten waren bereits dabei, Fackeln anzuzünden. Arutha hatte sehr genaue Befehle erteilt. Allen Toten sollten die Herzen aus dem Leib geschnitten werden, und die Leichen mußten verbrannt werden. Dann würden heute nacht keine Schwarzen Kämpfer aus den Gräbern auferstehen und für Murmandamus töten.

Jimmy schrie: »Ist hier jemand vorbeigelaufen?«

Einer der Soldaten sah auf: »Habe niemanden gesehen, Junker, allerdings waren wir ziemlich mit unserer Arbeit beschäftigt.«

Jimmy nickte und rannte weiter den Flur hinunter. Als er um eine Ecke bog, war vor ihm ein Kampf in vollem Gange. Jimmy sprang zwischen den Soldaten hindurch, die die Assassinen rasch überwältigten, und lief auf die nächste Tür zu. Sie war nicht richtig geschlossen, so als hätte sie jemand hastig hinter sich zugeschlagen. Jimmy stieß sie weit auf und trat in eine Gasse. Auf der anderen Seite standen drei weitere Türen offen - unbewacht. Jimmy sank das Herz. Er wandte sich um, und sah Arutha und Gardan hinter sich. Arutha fluchte erbittert. Wo früher ein ausgebranntes großes Gebäude gestanden hatte, waren nur mehrere kleine, und wo sich einmal eine massive Mauer entlanggezogen hatte, luden jetzt Türen zum Eintreten ein. Und keiner von Aruthas Soldaten war rechtzeitig eingetroffen, um eine Flucht auf diesem Wege zu verhindern. »Ist hier jemand entlanggekommen?« fragte der Prinz.

»Ich weiß nicht«, entgegnete Jimmy. »Einer, glaube ich, durch eine von diesen Türen.«

Einer der Soldaten trat zu Gardan heran und fragte: »Sollen wir sie verfolgen, Marschall?«

Arutha ging ins Haus zurück, derweil aus den nahestehenden Häusern neugierige Rufe der Bewohner von Fischdorf ertönten, die der Kampflärm geweckt hatte. »Gebt Euch keine Mühe«, meinte der Prinz schlichtweg. »So sicher, wie morgen die Sonne aufgeht, gibt es in diesen Häusern auch Türen zur anderen Straße. Heute nacht haben wir unser Ziel verfehlt.«

Gardan schüttelte den Kopf. »Wenn hier noch welche waren, dann haben sie Reißaus genommen, als sie unseren Angriff gehört haben.«

Weitere Wachen kamen in die Gasse, viele mit blutiger Kleidung. Einer rannte auf den Prinzen zu. »Wir glauben, zwei sind über eine andere Straße entwischt, Hoheit.«

Arutha schob sich an dem Mann vorbei und ging wieder ins Haus. Dort traf er Valdis. Er überwachte seine Soldaten bei ihrer blutigen Arbeit, mit der sie sicherstellten, daß keiner der Assassinen als Untoter zurückkehrte. Grimmig schnitten die Männer Brustkästen auf und rissen die Herzen heraus, die sofort verbrannt wurden.

Ein atemloser Seemann kam herein und sagte: »Eure Hoheit, Kapitän Hull bittet Euch, schnell zu kommen.«

Arutha, Jimmy und Gardan verließen das Zimmer, als Roald und Laurie auftauchten. Beide hatten immer noch ihre Waffen in der Hand. Arutha erblickte seinen Schwager und fragte bestürzt: »Was machst du denn hier?«

»Wir sind nur mal eben vorbeigekommen und wollten nach dem Rechten sehen«, antwortete Roald und sah den Prinzen verlegen an, während Laurie hinzufügte: »Er konnte noch nie besonders gut lügen. Sobald er mich gefragt hat, ob wir nicht ein bißchen spielen gehen wollen, habe ich gewußt, da stimmt doch etwas nicht.«

Arutha winkte jede weitere Ausrede ab und folgte dem Seemann in das Zimmer über den Abwasserkanälen und dann die Leiter hinunter. Die anderen folgten ihm nach. Sie durchquerten einen Abwasserkanal und erreichten Hull und seine Männer, die in ihren Booten warteten. Hull machte Arutha ein Zeichen, er solle an Bord kommen. Arutha und Gardan betraten es, Jimmy, Roald und Laurie ein anderes Boot.

Sie wurden an eine Stelle gerudert, an der sechs Kanäle zusammenstießen. Da lag ein Boot im Wasser, an einem Ring in den Steinen festgemacht, darüber in der Decke befand sich eine Falltür, von der eine Strickleiter herabhing. »Wir haben drei der Boote angehalten, die hier herauskamen, doch dieses eine ist uns entwischt. Als wir die Stelle hier erreichten, waren sie schon alle geflüchtet.«

»Wie viele?« fragte der Prinz.

»Vielleicht ein halbes Dutzend«, entgegnete Hull.

Arutha fluchte. »Uns sind oben schon zwei oder drei durch eine Seitengasse entwischt, und jetzt auch noch diese hier. In diesem Moment läuft womöglich ein Dutzend Nachtgreifer frei durch die Straßen der Stadt.«

Er verstummte für einen Augenblick, dann sah er Gardan an und kniff die Augen vor Ärger zusammen. »Krondor befindet sich ab sofort unter Kriegsrecht. Riegelt die Stadt ab.«

 

Zum zweiten Mal innerhalb von vier Jahren wurde in Krondor das Kriegsrecht ausgerufen. Damals, als Anita aus der Gefangenschaft im Palast ihres Vater geflohen war und Jocko Radburn - Guy du Bas-Tyras Hauptmann der Geheimen Polizei - nach ihr suchen ließ, war die Stadt gleichfalls abgeriegelt worden. Die Gründe waren vielleicht andere gewesen, doch die Auswirkungen für die Bevölkerung waren die gleichen. Und das jetzt sofort nach den Feierlichkeiten; für die Menschen eine doppelt bittere Pille.

Bereits wenige Stunden, nachdem das Kriegsrecht verhängt worden war, marschierten die ersten Kaufleute vor dem Palast auf und beschwerten sich. Den Anfang bildeten die Schiffsmakler: Ihre Interessen wurden als erste berührt, weil ihre Schiffe entweder im Hafen bleiben mußten, oder gar nicht erst einlaufen durften. Trevor Hull stand als Befehlshaber dem Geschwader vor, welches die Einhaltung der Blockade überwachen sollte. Der frühere Schmuggler kannte jeden Trick, mit dem man die Blockade unterlaufen konnte. Zweimal versuchten Schiffe es trotzdem, wurden jedoch abgefangen und geentert. Ihre Kapitäne wurden unter Arrest gestellt, und die Mannschaften durften nicht an Land gehen. In beiden Fällen wurde schnell deutlich, daß es sich um Profitgier handelte und nicht um eine Flucht vor Aruthas Vergeltungsmaßnahmen. Dennoch, weil auch die Wachen nicht wußten, nach wem man eigentlich suchte, wurde zunächst jeder verhaftete Mann im Stadtgefängnis, im Kerker des Palastes oder in der Gefängniskaserne in Gewahrsam gehalten.

Bald folgten die Fuhrleute dem Vorbild der Schiffseigner; dann die Müller, weil die Bauern nicht in die Stadt kommen durften; und dann all die anderen, die schwerwiegende Gründe darlegten, weshalb sie unbedingt mit einer Ausnahmegenehmigung die Blockade passieren mußten. Alle Anträge wurden abgelehnt.

Die Gesetze im Königreich basierten auf der Großen Freiheit, dem allgemeinen Recht. Alle Menschen waren frei - abgesehen von Dienstpflichtigen, Verbrechern, die zur Sklaverei verurteilt worden waren, und Leibeigenen, die in Pachtverträgen steckten. Die Adligen erhielten Rang und Namen, damit sie die unter ihrer Herrschaft stehenden Menschen schützten, und eine große Vasallenschaft entstand: Die Gemeinen Bauern führten den zehnten an ihren Junker oder Baron ab, und der wiederum zahlte Steuern an den Grafen. Der Graf seinerseits diente dem Herzog, der direkt der Krone unterstellt war. Mißbrauchte einer der Höhergestellten sein Recht, so wurde unter den freien Männern bald Protest laut. Und es gab zu viele Feinde innerhalb und außerhalb der Grenzen des Königreichs, als daß ein solcher Edler seine Stellung hätte lange halten können. Piraten von den Inseln des Sonnenuntergangs, queganische Freibeuter, Goblinbanden und vor allem die Bruderschaft des Dunklen Pfads - die Dunkelelben - machten eine gewisse innere Stabilität des Königreichs unabdingbar. Nur einmal in seiner Geschichte hatte das Land die Unterdrückung ohne offenen Protest ertragen, unter der Herrschaft des wahnsinnigen Königs Rodric, Lyams Vorgänger: Schließlich konnte man sich schlecht beim Tyrannen selbst beschweren. Unter Rodric war Majestätsbeleidigung zum Kapitalverbrechen erklärt worden, und niemand durfte seine Klagen öffentlich zum Ausdruck bringen. Lyam hatte dieses Gesetz sofort außer Kraft gesetzt: Solange kein Verrat vorlag, durfte jedermann alles sagen, was er dachte. Und eben jetzt äußerten die freien Männer von Krondor ihren Unmut, und zwar lautstark.

Krondor befand sich im Aufruhr, Stabilität war eine Sache der Vergangenheit. Während der ersten Tage des Kriegsrechts hatte es nur rumort, doch jetzt ging die Blockade der Stadt in die zweite Woche, und überall wurden die Waren und Lebensmittel knapp. Die Nachfrage wuchs, und die Preise stiegen. Als der ersten Schenke in der Hafengegend der Bierstrom versiegte, brach ein richtiggehender Aufstand aus. Arutha ordnete eine Ausgangssperre an.

Bewaffnete Einheiten der Fürstlichen Leibwache patrouillierten an der Seite der Stadtwachen durch die Straßen. Spione sowohl des Kanzlers als auch des Aufrechten sperrten die Ohren auf und belauschten Gespräche, um Hinweise auf den Aufenthalt der Assassinen zu erhalten.

Und die freien Männer protestierten.

 

Jimmy eilte einen Gang entlang, auf die privaten Gemächer des Prinzen zu. Er hatte dem Kommandanten der Stadtwache Botschaften zu überbringen gehabt und kehrte nun mit dem Kommandanten an seiner Seite zurück. Arutha kümmerte sich nur noch darum, daß die versteckten Assassinen gefunden wurden. Alle anderen Angelegenheiten schob er auf. Die alltäglichen Geschäfte des Fürstentums waren zunächst langsamer vonstatten gegangen, und schließlich ganz zum Erliegen gekommen. Arutha suchte nach den Nachtgreifern.

Jimmy klopfte an die Tür des Prinzen. Er und der Kommandant der Stadtwache wurden eingelassen. Jimmy stellte sich neben Laurie und die Herzogin Carline, während der Kommandant vor dem Prinzen salutierte. Gardan, Hauptmann Valdis und Graf Volney standen hinter dem Stuhl, auf dem der Prinz saß. Arutha blickte auf und sah den Kommandanten an. »Kommandant Bayne? Ich habe Euch meine Befehle überbringen lassen. Ich habe nicht um Eure Anwesenheit gebeten.«

Der Kommandant, ein leicht ergrauter Veteran, der seit dreißig Jahren seinen Dienst tat, sagte: »Hoheit, ich habe die Befehle gelesen. Ich bin nur mit dem Junker zurückgekommen, damit Ihr sie mir nochmals bestätigen könnt.«

»Sie werden genauso ausgeführt, wie sie da stehen, Kommandant. Noch etwas?«

Kommandant Bayne errötete vor Ärger. »Jawohl, Hoheit. Habt Ihr vielleicht Euren verdammten Verstand verloren, Hoheit?« Alle im Zimmer erstarrten beim Ausbruch des Offiziers. Doch ehe Gardan und Volney den Kommandanten unterbrechen konnten, fuhr er schon fort: »Wenn ich diese Befehle so ausführe, muß ich weitere tausend Männer hinter Gitter bringen. Erstens -«

»Kommandant«, schnauzte Volney, der sich als erster von der Überraschung erholt hatte.

Der Kommandant ignorierte den stämmigen Grafen einfach und setzte seine Beschwerde fort: »Erstens, diese Anweisung, daß wir jeden verhaften sollen, der nicht ›gemeinhin oder wenigstens drei Bürgern von gutem Ruf gut bekannt ist‹ Hoheit, jeder Seemann, der sich zum ersten Mal in Krondor aufhält, jeder Reisende, Vagabund, Barde, Betrunkene, Bettler, jede Hure und jeder Spieler, oder schlicht jeder Fremde, wir müssen sie uns alle schnappen und, ohne sie dem Richter vorzuführen, einsperren. Das ist Rechtsbruch. Zweitens habe ich gar nicht genug Männer, die diese Arbeit ordentlich erledigen können. Drittens habe ich nicht ausreichend Zellen für die ganzen Leute, die aufgegriffen und ausgefragt werden, nicht einmal für die, die wir dabehalten, weil sie uns keine befriedigenden Antworten gegeben haben. Zum Teufel, ich habe kaum Platz für diejenigen, die wir bereits hinter Gitter gebracht haben. Und als letztes, diese ganze Sache stinkt einfach zum Himmel. Mann, seid Ihr verrückt geworden? Innerhalb der nächsten zwei Wochen wird es in der Stadt einen offenen Aufstand geben. Selbst dieser Bastard Radburn hat es nicht gewagt, so mit den Bürgern umzugehen.«

»Kommandant, das reicht!« brüllte Gardan.

»Ihr habt Euch wohl völlig vergessen!« herrschte Volney.

»Es ist vielmehr Seine Hoheit, die sich vergessen hat, meine Lords. Und solange Majestätsbeleidigung nicht wieder in die Liste der Schwerverbrechen aufgenommen wird, sage ich offen meine Meinung.«

Arutha blickte dem Kommandanten fest in die Augen. »Ist das alles?«

»Das ist noch nicht einmal die Hälfte«, bellte der Kommandant. »Werdet Ihr diesen Befehl rückgängig machen?«

Arutha zeigte keine Regung. »Nein.«

Der Kommandant griff nach seinem Rangabzeichen und riß es sich vom Uniformrock. »Dann müßt Ihr Euch jemand anderen suchen, der diese Stadt so schindet, Arutha conDoin. Ich werde es nicht tun.«

»Gut.« Arutha nahm das Abzeichen entgegen. Er reichte es Hauptmann Valdis und sagte: »Macht den jetzt hochrangigsten Offizier der Wache ausfindig und befördert ihn zum Kommandanten.«

Der frühere Kommandant sagte: »Der wird die Befehle ebenfalls nicht ausführen, Hoheit. Die Stadtwache steht hinter mir wie ein Mann.« Er stützte die Knöchel auf Aruthas Tisch und beugte sich vor, bis seine Augen sich auf einer Höhe mit denen von Arutha befanden. »Am besten schickt Ihr gleich die Armee. Meine Jungs werden Euch nicht mehr folgen. Denn schließlich sind sie es, die, wenn diese Sache vorbei ist, in Gruppen zu zweit oder zu dritt nach Einbruch der Dunkelheit patrouillieren und die Ordnung wiederherstellen müssen. Und das in einer Stadt, in der Haß und Wahnsinn regieren. Ihr habt diese Zustände herbeigeführt, also kümmert Euch auch selbst darum, sie zu beseitigen.«

Arutha sagte ruhig: »Das wäre dann alles. Ihr seid entlassen.« Zu Valdis sagte er: »Schickt Kompanien aus der Garnison in die Stadt und übernehmt den Befehl über die Wachen. Jeder Wächter, der in meinen Diensten bleiben will, ist willkommen. Und jeder, der sich diesem Befehl widersetzt, soll seine Uniform ablegen.«

Mit einem Fluch auf den Lippen wandte sich der Kommandant steif ab und verließ das Zimmer. Jimmy schüttelte den Kopf und warf Laurie einen besorgten Blick zu. Der frühere Barde wußte genausogut wie der frühere Dieb, was sich in der Stadt zusammenbraute.

 

Krondor blieb eine weitere Woche unter Kriegsrecht. Arutha verschloß vor allen Ersuchen nach Beendigung der Blockade die Ohren. Am Ende der dritten Woche hatte man alle Männer oder Frauen, die nicht einwandfrei hatten identifiziert werden können, unter Arrest gestellt. Jimmy hatte sich mit den Spionen des Aufrechten in Verbindung gesetzt, und die hatten versichert, daß die Spötter auf ihre eigene Art und Weise den ›Hausputz‹ durchführten. Bislang hatte man sechs Leichen in der Bucht treibend gefunden.

Jetzt übernahmen Arutha und seine Berater die Leitung der Verhöre. Ein großer Teil der Lagerhäuser am nördlichen Rand der Stadt, ganz in der Nähe des Tors der Händler, war in Gefängnisse umgewandelt worden. Arutha, der von einer Abteilung Wachen mit grimmigen Gesichtern umgeben war, betrachtete die ersten fünf Gefangenen, die man ihm vorgeführt hatte.

Jimmy stand etwas abseits und hörte, wie ein Soldat dem anderen zuflüsterte: »Wenn das in diesem Tempo weitergeht, sind wir in einem Jahr noch nicht mit allen durch.«

Eine Weile lang sah Jimmy zu, wie Arutha, Gardan, Volney und Hauptmann Valdis die Inhaftierten befragten. Viele waren offensichtlich einfache Männer, aus Gründen festgenommen, die sie nicht verstanden, oder sie waren hervorragende Schauspieler. Alle waren verdreckt, schlecht ernährt und halb ängstlich, halb trotzig.

Jimmy wurde unruhig und verließ die Vorstellung. Am Rande der Menschenmenge entdeckte er Laurie, der sich auf einer Bank vor einer Schenke niedergelassen hatte. Jimmy gesellte sich zu dem Herzog von Salador, der sagte: »Sie haben nur noch Selbstgebrautes, und billig ist es auch nicht, aber wenigstens kühl.« Er sah zu, wie Arutha die Befragungen unter dem sommerlichen Himmel fortsetzte.

Jimmy wischte sich über die Stirn. »Das ist doch die reinste Heuchelei. Und es bringt überhaupt nichts.«

»Zumindest beruhigt es Aruthas Gemüt.«

»So hab ich ihn noch nie erlebt. Nicht einmal, als wir zum Moraelin gezogen sind. Er ist ...«

»Er ist wütend, verängstigt, und vor allem fühlt er sich hilflos.« Laurie schüttelte den Kopf. »Carline hat mir eine Menge über meinen Schwager beigebracht. Und eine Sache ist ganz offensichtlich, falls du sie nicht schon bemerkt hast: Er haßt es, wenn er hilflos ist. Wenn er in eine Sackgasse gelaufen ist, kann er vor Wut nicht einsehen, daß er vor einer Wand aus Stein steht. Aber sollte er die Blockade der Stadt aufheben, können die Nachtgreifer wieder nach Belieben ein- und aus gehen.«

»Also was? Sie sind auf jeden Fall in der Stadt, doch egal, was Arutha meint, niemand kann garantieren, daß sie auch wirklich festgenommen wurden. Vielleicht haben sie sich unter das Personal des Hofes gemischt, so wie sie im vergangenen Jahr bei den Spöttern mitgemischt haben. Wer soll das schon wissen?« Jimmy seufzte. »Wenn wenigstens Martin hier wäre, oder der König, dann könnten wir die Sache vielleicht zu einem Ende bringen.«

Laurie trank einen Schluck und verzog das Gesicht ob des bitteren Geschmacks. »Vielleicht. Du hast gerade die beiden einzigen Männer auf dieser Welt erwähnt, auf die er vielleicht noch hören würde. Carline und ich haben versucht, mit ihm zu reden, doch er hört sich alles nur geduldig an und sagt dann nein. Selbst Gardan und Volney können ihn nicht erweichen.«

Jimmy sah sich die Verhöre durch den Prinzen noch eine Weile an. Drei weitere Gruppen Gefangener wurden vorgeführt. »Nun, eine gute Seite hat die Sache allerdings. Vier Männer sind entlassen worden.«

»Und wenn sie von einer anderen Patrouille aufgegriffen werden, wirft man sie wieder ins Gefängnis, und dann kann es Tage dauern, bis jemand ihre Behauptung überprüft, daß sie bereits vom Prinzen freigelassen wurden. Das alles hier bringt überhaupt nichts, und hoffentlich merkt der Prinz das bald. Das Banapisfest steht in zwei Wochen vor der Tür, und sollte die Blockade bis dahin nicht beendet sein, bricht sicherlich in der ganzen Stadt ein Aufstand aus.« Niedergeschlagen preßte Laurie die Lippen aufeinander. »Vielleicht ... wenn Magie dabei helfen könnte, die Nachtgreifer herauszusuchen ...«

Jimmy richtete sich auf. »Was?«

»Wie was?«

»Was du gerade gesagt hast. Warum eigentlich nicht?«

Laurie wandte dem Junker langsam den Kopf zu und sah ihn an. »Woran denkst du?«

»Ich denke, es ist Zeit für einen kleinen Schwatz mit Vater Nathan. Kommst du mit?«

Laurie schob den Krug mit dem bitteren Bier zur Seite und stand auf. »Ich habe mein Pferd dort hinten angebunden.«

»Wir sind auch schon früher zu zweit auf einem Pferd geritten. Kommt schon, Euer Gnaden.«

Und zum ersten Mal seit Tagen lachte Laurie.

 

Nathan neigte den Kopf und hörte Jimmy zu, der ihm seine Idee erläuterte. Der Priester von Sung der Weißen rieb sich das Kinn, und während er nachdachte, sah er eher aus wie ein Ringer als wie ein Geistlicher. »Es gibt magische Verfahren, die jemanden dazu bringen können, die Wahrheit zu sagen, doch diese Methoden sind ausgesprochen zeitraubend, und man kann sich nicht immer auf sie verlassen. Ich bezweifle, ob sich Magie als nützlicher erweist als die Methode, die gegenwärtig angewendet wird.« Wie sein Tonfall verriet, hielt er von ihr auch nicht besonders viel.

Laurie erkundigte sich: »Und was ist mit den anderen Tempeln?«

»Ihre Methoden unterscheiden sich nur wenig von unseren, nur in der Art, wie ihre Zaubersprüche aufgebaut sind. Die Schwierigkeiten sind jedoch grundlegend die gleichen.«

Jimmy wirkte niedergeschlagen. »Ich hatte insgeheim gehofft, es gäbe eine Möglichkeit, die Assassinen ohne weiteres aus der Masse der Leute herauszusieben. Schade, das scheint doch nicht zu funktionieren.«

Nathan stand von dem Tisch in Aruthas Beratungszimmer auf, an den er sich gesetzt hatte, während der Prinz draußen die Verhöre überwachte. »Nur wenn ein Mann im Sterben liegt und unter Lims- Kragmas Einfluß gerät, lassen sich alle Fragen beantworten.«

Jimmys Gesicht umwölkte sich merklich, als ihm ein Gedanke durch den Kopf schoß; dann hellte es sich wieder auf. »Das könnte es sein.«

Laurie entgegnete: »Was könnte es sein? Man kann sie doch nicht alle töten.«

»Nein«, meinte Jimmy und übersah die Absurdität dieser Bemerkung. »Also, könnte man nicht Julian, den Priester der Lims- Kragma, hierherbitten?«

Nathan erwiderte trocken: »Meinst du wirklich den Hohepriester Julian vom Tempel der Lims-Kragma? Du vergißt wohl, daß er diese Stellung bekommen hat, weil seine Vorgängerin bei einem Überfall auf diesen Palast in den Wahnsinn getrieben wurde.« Nathans Gesichtsausdruck verriet ein unwohles Gefühl, denn der Priester der Sung hatte persönlich gegen den untoten Diener des Murmandamus gekämpft, und das zu einem hohen Preis. Die Ereignisse suchten Nathan noch immer in schlimmen Alpträumen heim.

»Oh«, meinte Jimmy.

»Wenn ich darum ersuche, wird er uns vielleicht eine Audienz gewähren, doch ich bezweifle stark, daß er hierher kommen wird. Ich mag zwar der Berater des Prinzen sein, doch in der geistlichen Hierarchie bin ich nur ein einfacher Priester mit bescheidenen Verdiensten.«

»Nun, dann fragt doch, ob er sich mit uns treffen würde. Ich glaube, wenn er mit uns zusammenarbeitet, finden wir vielleicht einen Weg, wie wir diesen Wahnsinn in Krondor beenden können. Allerdings hätte ich die Zusage vom Tempel der Lims-Kragma gern, bevor ich die Idee dem Prinzen vortrage. Ansonsten würde er wahrscheinlich überhaupt nicht zuhören.«

»Gut. Ich schicke Julian eine Botschaft. Es wäre jedoch höchst ungewöhnlich, wenn sich die Tempel in die Angelegenheiten der Stadt einmischen würden. Auch wenn die Beziehungen zwischen den Tempeln und den Beamten des Fürstentums etwas enger geworden sind, seit dieser Murmandamus aufgetaucht ist. Vielleicht wird Julian einer Zusammenarbeit zustimmen. Ich vermute allerdings, hinter dieser Sache steht noch ein anderer Plan?«

»Ja, genau«, meinte Laurie. »Was für einen Trumpf willst du denn noch aus dem Ärmel ziehen, Jimmy?«

Jimmy legte den Kopf auf die Seite und grinste. »Das Theater wird dir gefallen, Laurie. Wir veranstalten einen kleinen Mummenschanz, versetzen die Nachtgreifer in Angst und Schrecken und holen so die Wahrheit aus ihnen heraus.«

Der Herzog von Salador lehnte sich zurück und dachte über das nach, was der Junge gesagt hatte. Dann schien er verstanden zu haben, denn er strich sich durch den blonden Bart, und sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. Nathan sah die beiden fragend an, bis es auch ihm dämmerte und er lachen mußte. Sich bewußt, daß er aus seiner Rolle gefallen war, versuchte sich der Geistliche der Göttin des Einen Pfades zusammenzureißen, konnte seine Erheiterung jedoch nur schlecht verbergen.

Von den großen Tempeln in Krondor wurde derjenige der Göttin des Todes, Lims-Kragma, am wenigsten aufgesucht, obwohl dem allgemeinen Glauben nach diese Göttin früher oder später jeden zu sich rief. Üblicherweise brachte man ihr Opfergaben dar und richtete Gebete für die jüngst Verschiedenen an sie, doch nur wenige verehrten die Göttin als Höchste. In den vergangenen Jahrhunderten hatten die Jünger der Todesgöttin blutige Rituale praktiziert, die sogar Menschenopfer einschlossen. Im Verlauf der Jahre hatten sie ihre Praktiken allerdings gemäßigt, und auch normale Bürger zählten zu den Gläubigen der Lims-Kragma. Die alten Vorurteile starben jedoch nicht so schnell aus. Auch heute noch wurden im Namen der Todesgöttin immer blutige Taten begangen, und für viele gewöhnliche Menschen war der Tempel weiterhin ein Hort des Schreckens. Und jetzt wurde eine Gruppe eben dieser gewöhnlichen Menschen - unter denen sich womöglich einige ungewöhnliche verbargen - in den Tempel geführt.

Arutha stand schweigend am Eingang zum innersten Heiligen des Tempels der Lims-Kragma. Schwerbewaffnete Soldaten patrouillierten im Vorraum, das Innere des Tempels bevölkerten die Tempelwachen in den schwarz-silbernen Gewändern ihres Ordens. Sieben Priester und Priesterinnen in ihren feierlichen Ornaten hatten sich aufgestellt, als sollte unter der Aufsicht des Hohepriesters Julian eine bedeutende Zeremonie durchgeführt werden. Zunächst hatte sich der Hohepriester dieser Scharade abgeneigt gezeigt, da allerdings seine Vorgängerin bei der Begegnung mit einem der Diener des Murmandamus dem Wahnsinn verfallen war, brachte er jedem Versuch, das Böse zu vereiteln, Verständnis entgegen. Widerwillig hatte er sich letztendlich einverstanden erklärt.

Die Gefangenen wurden nach vorn getrieben, auf den dunklen Eingang zu. Die meisten widersetzten sich, und die Soldaten mußten sie mit Hilfe ihrer Lanzen weiterschieben. In der ersten Gruppe befanden sich jene Verdächtigen, denen die Mitgliedschaft in der Bruderschaft der Assassinen am ehesten zugetraut wurde. Arutha hatte nur ungern in dieses Spiel eingewilligt und darauf bestanden, daß alle, die für Nachtgreifer gehalten wurden, in der ersten Gruppe ›überprüft‹ werden sollten, falls die Sache aufflog und die anderen Gefangenen Wind davon bekamen.

Als die widerwilligen Gefangenen schließlich vor dem Altar der Göttin des Todes standen, intonierte Julian: »Laßt uns mit dem Gericht beginnen.« Sofort stimmten die Priester, Priesterinnen und Mönche einen dunklen und schauerlichen Gesang an, Der Hohepriester wandte sich an die ungefähr fünfzig Männer, die von den schweigenden Tempelwachen in Schach gehalten wurden, und sagte: »Vor dem Stein des Altars des Todes soll niemand die Unwahrheit sagen. Im Angesicht von Der, Die Wartet, von Der, Die Ihre Netze Auswirft, sowie von Der, Die Das Leben Liebt, muß ein jeder zu seinen Taten stehen. Also hört, Männer von Krondor, unter euch befinden sich welche, die unserer Göttin abgeschworen haben, die den bösen Mächten dienen, die sich auf die Ränke der Finsternis eingelassen haben. Unter euch befinden sich welche, die die Gnade des Todes verwirkt haben, die letzte Ruhe, die uns Lims-Kragma gewährt. Diese Männer verachten alles, gehorchen sie doch nur dem Willen ihres bösen Meisters. Und diese Männer sollen nun durch uns von euch geschieden werden. Jeder soll auf dem Stein der Todesgöttin geprüft werden, und jeder, der die Wahrheit spricht, soll nichts zu fürchten haben. Aber jene, die sich der Finsternis verschworen haben, sollen entlarvt und dem Zorn von Der, Die Wartet, überantwortet werden.«

Der Statue hinter dem Altar, das Bildnis einer schönen, ernstblickenden Frau aus Jett, erglühte flackernd in einem blaugrünen Licht. Jimmy war beeindruckt. Er stand neben Laurie und sah zu. Der Effekt gab dem Augenblick etwas Dramatisches.

Julian machte eine Geste, man solle den ersten Gefangenen nach vorn bringen, und der Mann wurde herangezerrt. Drei starke Wachen hoben ihn auf den Altar, der in lange vergangener Zeit auch für Menschenopfer benutzt worden war, und Julian brachte aus dem Ärmel seines weiten Gewandes einen schwarzen Dolch zum Vorschein. Er ließ ihn über der Brust des Mannes schweben und fragte ihn: »Dienst du Murmandamus?«

Der Mann verneinte die Frage krächzend, und Julian zog den Dolch zurück. »Dieser Mann ist frei von Schuld«, verkündete er. Jimmy und Laurie sahen sich an. Der Kerl war einer von Trevor Hulls Seemännern, der zwar zerlumpt und rauh aussah, doch keinesfalls verdächtig und - seiner Vorstellung nach zu urteilen - ein eher durchschnittlicher Schauspieler war. Man hatte ihn eingesetzt, damit die Veranstaltung glaubwürdig erschien, das galt auch für den zweiten Mann, der nun vor den Altar gezerrt wurde. Er schluchzte kläglich, schrie um Hilfe und bettelte um Gnade.

Hinter vorgehaltener Hand zischte Jimmy Laurie zu: »Er übertreibt ein bißchen.«

»Das macht nichts«, flüsterte Laurie zurück, »die anderen zittern vor Angst.«

Jimmy betrachtete die versammelten Gefangenen, die die Zeremonie gefesselt verfolgten. Auch der zweite Mann wurde als unschuldig entlassen. Jetzt ergriffen die Wachen den ersten Mann, der wirklich geprüft werden sollte. Sein Blick war so gebannt wie der eines Vogels, der vor einer Schlange steht. Rasch wurde er zum Altar gebracht.

Nach vier weiteren Männern durchquerte Arutha den Tempelraum und stellte sich so neben Laurie und Jimmy, daß er den beiden den Blick auf die Zeremonie verdeckte. »Das wird zu keinem Erfolg führen.«

Jimmy entgegnete: »Vielleicht haben wir einfach keinen Nachtgreifer unter diesen Gefangenen. Laßt uns Zeit. Wenn alle die Prüfung bestehen, sind sie immer noch in Eurem Gewahrsam.«

Plötzlich stieß einer der Gefangenen aus der ersten Reihe zwei der Tempelwächter zur Seite und sprang auf die Tür los. Sofort versperrten Aruthas Wachen ihm den Weg. Der Mann warf sich auf sie und drängte sie zurück. In dem entstandenen Gerangel versuchte er, einer der Wachen den Dolch aus dem Gürtel zu ziehen. Doch er bekam einen Schlag auf die Hand, und der Dolch rutschte über den Fußboden, während eine andere Wache den Mann mit einer Lanze niederstieß. Der Ausbrecher landete auf dem steinernen Boden.

Jimmy sah, wie sich ein anderer Gefangener in aller Ruhe bückte und den Dolch aufhob. Mit kalter Entschlossenheit richtete er sich auf, wandte sich um, die Klinge zwischen Zeigefinger und Daumen. Er riß den Arm zurück, und genau in dem Moment, als Jimmy den Mund zu einem warnenden Schrei aufmachte, warf er den Dolch.

Jimmy sprang vorwärts, wollte Arutha zur Seite stoßen, war jedoch einen Augenblick zu spät. Der Dolch traf. Einer der Priester schrie: »Gotteslästerung!« Alle sahen auf den Prinzen. Arutha taumelte, riß vor Erstaunen die Augen weit auf und starrte auf das Heft der Klinge, das aus seiner Brust herausstak. Laurie und Jimmy ergriffen ihn bei den Armen und hielten ihn aufrecht. Arutha warf Jimmy einen Blick zu, und seine Lippen bewegten sich stumm, so als wäre Sprechen die schwierigste Aufgabe der Welt. Dann verdrehte er die Augen und sackte nach vorn. Jimmy und Laurie hielten ihn immer noch fest.

 

Jimmy saß still da, während Roald hin und her ging. Carline saß dem Jungen gegenüber und hing ihren Gedanken nach. Sie warteten vor Aruthas Schlafgemach, während Vater Nathan und die fürstlichen Heiler fieberhaft bemüht waren, Aruthas Leben zu retten. Nathan hatte sich nicht um Rangunterschiede gekümmert, als er sie alle miteinander aus Aruthas Zimmer geschickt hatte, und selbst Carline jeden Blick auf ihren Bruder verwehrte. Zuerst hatte Jimmy die Wunde als ernst, jedoch nicht tödlich eingeschätzt. Er hatte Männer gesehen, die Schlimmeres überlebt hatten, doch die Zeit verstrich, und der Junge machte sich langsam Sorgen. Mittlerweile hätte Arutha außer Gefahr sein sollen, doch aus dem Gemach war kein Wort über seinen Zustand zu erfahren. Jimmy befürchtete Komplikationen.

Er rieb sich die Augen und seufzte laut. Wieder einmal hatte er gehandelt, doch zu spät, um das Unglück abzuwenden. Er unterdrückte seine Schuldgefühle und erschrak, als neben ihm eine Stimme sagte: »Mach dir keine Vorwürfe.«

Er sah auf; Carline hatte sich neben ihn gesetzt. Er lächelte schwach und sagte: »Könnt Ihr Gedanken lesen, Herzogin.«

Sie schüttelte den Kopf und kämpfte mit den Tränen. »Nein, ich habe nur gerade daran gedacht, wie schwer du Aruthas Verwundung genommen hast.«

Jimmy konnte nur nicken. Laurie kam herein und ging hinüber zu der Wache vor dem Schlaf gemach des Prinzen. Leise sprach er mit ihr. Die Wache betrat das Zimmer, kehrte einen Moment später zurück und flüsterte ihm eine Antwort zu. Laurie ging zu seiner Frau, küßte sie flüchtig auf die Wange und sagte: »Ich habe Reiter losgeschickt, die Anita holen sollen, und ich habe die Blockade aufgehoben.« Als nunmehr höchster Adliger in der Stadt besaß Laurie viel Autorität, und er hatte mit Volney und Gardan für Ruhe und Ordnung gesorgt. Während die Krise so gut wie gemeistert war, wurden etliche Festgenommene immer noch unter Arrest gehalten, weil man Racheakte von wütenden Bürgern erwartete. Auch die Ausgangssperre würde noch einige Tage aufrechterhalten bleiben, und größere Menschenansammlungen waren verboten.

Laurie sagte leise: »Ich muß weiter meinen Pflichten nachkommen. Doch ich bin bald wieder zurück.« Er stand auf und verließ das Vorzimmer. Die Zeit strich langsam dahin.

Jimmy hing seinen Gedanken nach. In der kurzen Zeit, in der er den Prinzen gekannt hatte, hatte sich sein Leben von Grund auf verändert. Vom Straßenjungen und Dieb war er zum Junker geworden, und damit hatte er sich von seinem früheren Leben und seinen früheren Gewohnheiten verabschieden müssen, obwohl ihm seine Wachsamkeit auch bei den Intrigen am Hofe ausgezeichnete Dienste geleistet hatte. Der Prinz und seine Familie waren jedenfalls die einzigen, die Jimmy etwas bedeuteten. In den vergangenen Stunden war seine Unruhe gewachsen, jetzt machte er sich wirklich ernsthafte Sorgen. Die Heiler und Priester waren schon viel zu lange am Werk. Jimmy war sich sicher, irgend etwas stimmte nicht. Stimmte ganz und gar nicht.

Da ging die Tür auf, und eine der Wachen wurde hereingewinkt. Einen Augenblick später erschien der Mann wieder und eilte dann auf den Gang hinaus. In kürzester Zeit tauchten Laurie, Gardan, Valdis und Volney vor dem Schlafgemach auf. Ohne den Blick von dem geschlossenen Portal zu wenden, langte Carline hinüber und ergriff Jimmys Hand. Jimmy sah sie an und war betroffen, als er ihre mit Tränen gefüllten Augen bemerkte. Mit erschreckender Sicherheit war dem Jungen jetzt klar, was geschehen war.

Die Tür öffnete sich erneut, und Nathan erschien mit bleichem Gesicht. Er blickte sich im Zimmer um und wollte etwas sagen, hielt jedoch sofort wieder inne, als könnte er die Worte nicht über die Lippen bringen. Zuletzt flüsterte er einfach: »Er ist tot.«

Jimmy konnte sich nicht mehr beherrschen. Er sprang von der Bank auf und schob sich an den Leuten vorbei, die vor der Tür standen. Er merkte nicht, wie seine Stimme plötzlich schrie: »Nein!« Die Wachen waren zu entsetzt, um den jungen Junker zurückzuhalten, als er sich in Aruthas Zimmer drängte. Dort blieb er stehen. Auf dem Bett lag unverkennbar die Gestalt des Prinzen. Jimmy ging an seine Seite und studierte die starren Züge. Kr streckte die Hand aus und wollte den Prinzen berühren, doch sie verharrte kaum einen Zoll vor Aruthas Gesicht. Jimmy brauchte ihn nicht zu berühren, es gab auch so keinen Zweifel: Dieser Mann, der da vor ihm auf dem Bett lag und dessen Gesicht ihm so vertraut war, dieser Mann war tot. Jimmy ließ den Kopf auf die Bettdecke fallen und begann zu schluchzen.